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Medizinische Leitlinien – Gefährliche “Leitplanken” im Medizinverkehr


Warum Sie als Patient einen Blick hinter die “standardisierten” Therapieempfehlungen werfen sollten.

 von Rene Graeber

Während es sich bei den Richtlinien um Handlungs- oder Ausführungsvorschriften handelt, die bindend sind, sind Leitlinien eher als „Empfehlungen“ anzusehen. Laut Wikipedia werden medizinische Leitlinien wie folgt definiert: „Medizinische Leitlinien sind systematisch entwickelte Feststellungen, um die Entscheidungen von Ärzten, Zahnärzten, Angehörigen anderer Gesundheitsberufe und Patienten über angemessene Gesundheitsversorgung für spezifische klinische Umstände zu unterstützen.[1] Sie sind – anders als Richtlinien – nicht bindend und müssen an den Einzelfall angepasst werden. Idealerweise berücksichtigen sie auch ökonomische Aspekte der Behandlung (wie z. B. eine Reihe von Leitlinien der AWMF-Mitgliedsgesellschaften).“ (de.wikipedia.org/wiki/Medizinische_Leitlinie).

Und da Leitlinien den jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden sollen (zum Beispiel weil es neue Forschungsergebnisse gibt), deshalb gibt es bei den Medizinern Kommissionen und Arbeitskreise, die sich dieser Aufgabe gerne annehmen. Was dann dabei herauskommen kann, bringt den medizinischen Laien oft ins Staunen. Denn unter „Aktuelle Therapie-Empfehlungen: Was der Arzt nicht weiß“ diskutiere ich die erstaunlich weit verbreitete Unwissenheit vieler Ärzte über die eigenen Leitlinien. Nur 40 Prozent der überprüften Ärzte in einer Untersuchung der Universität Köln kannten sich mit den geltenden Leitlinien und deren Therapievorschlägen aus. Soll das jetzt heißen, dass die anderen 60 Prozent nicht wissen, was sie tun? Oder machen die nur ihre eigene, leitlinienungebundene Medizin? Aber das wäre dann ja schon fast jenseits der Forderung nach evidenzbasiertem Handeln.

Noch ein Beispiel: Unter Neue (Entg)Leitlinien: Alzheimer in 3 Akten geht es um die Bereicherung, der an sich desolaten Therapie von Alzheimer, durch einen neuen Satz Leitlinien. Nur diese spiegeln die Hilflosigkeit der Schulmedizin bei diesem Thema wider und sind alles andere als eine Hilfe oder Bereicherung.

Leitlinie, Leitlinie an der Wand – wer leitet am besten im ganzen Land?

Wenn also Leitlinien kaum bekannt sind oder aber der evidenzbasierte Ausdruck schulmedizinischer Hilflosigkeit bei einer Erkrankung (in diesem Fall bei Alzheimer), dann kann es schlimmer kaum noch kommen – so sollte man annehmen. Aber: wenn man sogenannte “wissenschaftliche Studien” so manipulieren kann, dass sie die erwünschten Ergebnisse immer wieder reproduzieren, die man auch haben will, dann könnte man das mit den Leitlinien doch genau so machen? Der Artikel Verfälschte Studien für schnellere Zulassung gibt nur eine kleine Kostprobe, warum und wie solche Verfälschungen von Studien von einer evidenzbesessenen Medizinideologie unterstützt werden. Im Schulmedizin-Report gehe ich noch detaillierter auf die Vorgehensweisen und Gründe für so viel Unwissenschaftlichkeit ein.

Aber erst kürzlich (07. Oktober 2013) schlug der „Spiegel“ wieder erbarmungslos zu und veröffentlichte einen interessanten Beitrag mit dem Titel: Gefährliche Tricks: Leitlinien für Ärzte sind anfällig für Manipulation (spiegel.de/wissenschaft/medizin/leitlinien-streit-verzerrte-daten-beeinflussen-empfehlungen-a-926041.html). Und wenn man dem Spiegel glauben darf, dann sind in gewissen Teilen die Leitlinien der Medizin eine Kombination aus verfälschten Studien und der Unwissenheit der Ärzte um die Leitlinien und deren Qualität.

Der Spiegel bringt hierfür ein Beispiel: Das Schmerzmittel Gabapentin (Neurotonin®, Gabax®) gehört zur Gruppe der Antikonvulsiva und wird bei Epilepsie und neuropathischen Schmerzen eingesetzt. Das Medikament gehört zu den am häufigsten verkauften Pillen der Firma Pfizer. Aber 90 Prozent der Einnahmen aus dem Verkauf dieses Medikaments stammen von “Off-label-Verschreibungen”, also Einsätzen der Substanz, für die es keine offiziell zugelassene Indikation gibt. Pfizer hat es verstanden, auch unter Umgehung der evidenzbasierten Medikamentenzulassung, nicht evidenzbasierte Eigenindikationen zu schaffen, wie zum Beispiel bestimmte Formen von Nystagmus (Augenzittern), Wechseljahresbeschwerden, Schmerzen und Spastik bei Multipler Sklerose, Alkoholentzug, Raucherentwöhnung und noch ein paar mehr. Inzwischen gibt es von der FDA (in den USA), die Auflage, vor einer erhöhten Selbstmordgefahr der behandelten Patienten zu warnen und diese darauf aufmerksam zu machen. Die Nebenwirkungsliste ist so umfangreich und spannend wie ein Kriminalroman. Im Jahr 2004 wurde Pfizer beziehungsweise seine Tochter Warner-Lambert verurteilt, 430 Millionen Dollar Strafe zu zahlen, als das Gericht es als erwiesen ansah, dass die Firma unerlaubte, eigenmächtige Sonderindikationen geschaffen hatte, mit dem Ziel der Umsatzerhöhung.

Nach dieser kurzen Beschreibung, was das Medikament ist und wie es zum Einsatz kommt, kommt vom Spiegel die Nachricht, dass es inzwischen schon fünf Studien gibt, die zeigen konnten, dass das Schmerzmittel zu nichts nutze ist. Aber dennoch taucht es in den Empfehlungen der Leitlinien der Fachgesellschaft für Neurologie auf! Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Ein Medikament, das nichts nutzt, aber die Patienten eventuell in den Selbstmord treibt, wird von Neurologen empfohlen beziehungsweise eingesetzt – von der langen Liste an anderen Nebenwirkung habe ich da noch nicht gesprochen. Geht hier etwas nicht mit rechten Dingen zu?

Wir erfahren an dieser Stelle, dass Warner-Lambert das einzig Richtige gemacht hat, was diese Industrie in solchen Fällen immer zu machen pflegt: Man hat unerwünschtes Datenmaterial in unzugänglichen Schubladen verschwinden lassen und an deren Stelle Daten aus der “heilen Welt” veröffentlicht – manche sprechen auch von einer “Märchenwelt”, ich bezeichne es ja auch gerne als “Legoland”. Der eben erwähnte Prozess brachte diese Praktik ans Tageslicht, was aber bis heute niemanden zu stören scheint.

Im „Ärzteblatt“ erschien ein Artikel, der diese Praktiken untersuchte und der „Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaft (AMWF)“ und deren Arbeit bei der Erstellung der Leitlinien ein nicht besonders rühmliches Urteil verpasste (Besteht ein Einfluss pharmazeutischer Unternehmen auf Leitlinien? Zwei Beispiele aus Deutschland).

Aber nicht nur die Neurologen stützen sich auf dubiose Empfehlungen. Auch die europäischen Kardiologen wollen hier nicht hinten anstehen. Sie haben Leitlinien entwickelt, die den Betablocker vermehrt bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen zum Einsatz kommen lassen will. Vater der Idee ist ein niederländischer Mediziner, der wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens seinen Platz in der Universität hat räumen müssen. Und inzwischen gibt es auch einige Tausend Todesfälle, die direkt oder indirekt auf diese Empfehlung zurückgeführt werden können.

Wenn man dann noch erfährt, dass viele neue Medikamente Flops sind, dann kann einem doch glatt der Gedanke kommen, dass die Leitlinien nichts als eine der vielen Methoden des Pharmamarketings sind, diese Flops im Markt durchzusetzen, bis diese ihre Kosten (und mehr), wieder eingespielt haben. Am Beispiel Gabapentin ist ein solcher pharmakologischer Flop (keine Wirkung und üble Nebenwirkungen in beträchtlicher Zahl), über die Leitlinien exzellent im Markt plaziert worden, auf Kosten der Kunden = Patienten.

Der Artikel im Ärzteblatt bringt ein weiteres Beispiel. Das Mittel Efalizumab von Merck Serono wird in den einschlägigen Leitlinien als Mittel der Wahl zur Behandlung von Schuppenflechte empfohlen. Diese günstige Bewertung aus deutschen Landen fand jedoch keinen Widerhall auf den britischen Inseln. Denn dort wurde für die Erstellung der Leitlinien sichergestellt, dass keine Personen mit Interessenskonflikten im entscheidungsbefugten Gremium saßen. Im deutschen Gremium dagegen saßen von 15 stimmberechtigten Teilnehmern zehn mit zahlreichen finanziellen Bindungen zur Pharmaindustrie (bis zu 11 verschiedene Unternehmen – https://www.aerzteblatt.de/callback/image.asp?id=57061). Bei aller Unterschiedlichkeit gab es eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen diesen zehn „Spezialisten“: Alle zehn bekamen Gelder von Serono, dem Inhaber der Zulassung von Efalizumab. Und einer der „glorreichen 10“ ist sogar Mitglied im „Advisory Board“ der Serono GmbH. Zufall? Wer da noch an Zufälle glaubt, der glaubt auch noch an den Klapperstorch.

Solche Reporte sind nicht nach dem Geschmack der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

Die AWMF wehrt sich vehement mit gängigen Phrasen:

Leider wird derzeit kaum öffentlich wahrgenommen, dass die AWMF bereits 2010 eine im internationalen Vergleich sehr innovative Regel zur Darlegung von und zum Umgang mit Interessenkonflikten eingeführt hat.

Ja…, die dumme Öffentlichkeit, die zu keiner Wahrnehmung fähig ist…

Um also das Wahrnehmungsvermögen von Öffentlichkeit und anderen zu erhöhen, hat die AWMF eine Webseite, die eine Erklärung von und Umgang mit Interessenkonflikten bei Leitlinienvorhaben (awmf.org/leitlinien/awmf-regelwerk/ll-entwicklung/awmf-regelwerk-01-planung-und-organisation/po-interessenkonflikte/interessenskonflikte.html) abgibt. Hier kommt zum Ausdruck, dass eine Finanzierung durch Dritte mit direkter Einflussnahme zur Ablehnung der Anmeldung einer Leitlinienentwicklung führt.

Das hört sich zu gut an, um wahr zu sein. Oder mit anderen Worten:

  • Wenn die Finanzierung durch Dritte zur Ablehnung führt, warum gab es dann zehn Teilnehmer mit Interessenkonflikten und keine Ablehnung der Substanz Efalizumab als Bestand der Leitlinie?
  • Warum gab es keine Ablehnung aufgrund der Studienlage, die der Substanz bei weitem nicht die Wirksamkeit bescheinigte, die eine „Leitlinien-Substanz“ eigentlich haben sollte?
  • Was also nutzen öffentlich wahrnehmbare Erklärungen vom Umgang mit Interessenkonflikten auf Webseiten, wenn sich niemand daran halten will?
  • Auf der Webseite steht das, was jeder hören beziehungsweise lesen will. Die Praxis spricht eine andere Sprache. Wer zahlt für diese Diskrepanz? Der Patient mit Geld und Gesundheit und wenn es ganz schlimm kommen sollte, dann mit seinem Leben.

Ein weiterer Passus aus dieser seltsamen Erklärung:

Die Interessenkonflikterklärungen aller Mitwirkenden sind im Leitlinienreport der Leitlinie im Detail (z. B. in Tabellenform) wiederzugeben (Anm.: Die Hervorhebung durch den Fettdruck stammt aus dem Original). Die Langfassung der Leitlinie muss das Verfahren der Erfassung und der Bewertung von Interessenkonflikten mit Verweis auf den Leitlinienreport beschreiben.

Jetzt könnte ein praktisch und logisch denkender Mensch doch glatt auf die Idee kommen, zu fragen, warum Mitwirkende überhaupt Zugang zu einem solchen Gremium haben? Warum also eine “Interessenkonflikterklärung” (herrliches Beamtendeutsch!), wenn man diese umgehen kann unter Entfernung beziehungsweise nicht Zulassung der fraglichen Teilnehmer – Gänsezeichen oben, Fragefüßchen unten?

Und was passiert, wenn doch ein Konflikt besteht?

Darüber gibt uns besagte Webseite doch sofort Auskunft:

Fertige Leitlinien, bei denen die Finanzierung Interessenkonflikte enthält oder die Interessenkonflikte einzelner Mitwirkender nicht transparent sind, werden nicht in das AWMF-Register aufgenommen. Den Tatbestand prüfen die Leiter der AWMF-Leitlinienkommission, in strittigen Fällen das AWMF-Präsidium.

Oder mit anderen Worten: Wenn jemand seine finanziellen Verstrickungen mit der Pharmaindustrie nicht angibt, dann muss die „AWMF-Leitlinienkommission“ beweisen, das dem so ist und darf dann die neu erarbeiteten Leitlinien knicken. Sieht so evidenzbasiertes, praktikables Vorgehen aus? Wer wird die werten Kollegen mit den Interessenkonflikten gegen das Knie treten und ihnen Unlauterkeiten vorwerfen und „unermüdliche Kommissionsarbeit“ gefährden? Wegen dieser paar Tausend Euro stampft doch niemand schwer erarbeitete neue Leitlinien in die Tonne.

Fazit

Zwei Beispiele für eine durchgehende Praxis zeigen, wie marode die Schulmedizin geworden ist. Sie zeigen nur zu deutlich, dass zumindest im Hintergrund finanzielle Interessen im Vordergrund stehen, und dass sich dieses Gebaren in jeden Winkel der Schulmedizin fortsetzt. Marode Leitlinien, Medikamentenzulassungen mit gefälschten oder erfundenen Studien, Hetzkampagnen gegen die Alternativmedizin scheinen Teil einer Praxis zu sein, wo es in der Medizin nicht mehr um Medizin und schon lange nicht mehr um den Patienten geht. Und die aufrichtigen Schulmediziner, die täglich zum Wohle Ihrer Patienten arbeiten (Ja, so etwas gibt es und ich kenne auch Viele davon), sitzen zwischen den Stühlen. Sie müssen neben ihrer Praxis und dem damit verbundenen Verwaltungsaufwand auch noch für eine Selbstschulung in Sachen Diagnose und Therapie sorgen. Denn Leitlinien, sofern sie bekannt sind, scheinen nichts anderes als Werbefernsehen für Mediziner zu sein und wenig Hilfe bei der Therapie.