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WIRTSCHAFT APOTHEKEN 21:07

So läuft der Betrug mit den Luftrezepten

Immer wieder fliegen Ärzte und Pflegedienste mit illegalen Machenschaften auf. Jetzt wird offenbar, dass Apotheker ihre Kunden noch häufiger betrügen – mit einer schwer zu entlarvenden Masche.
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Von Anette Dowideit
Reporterin Investigativteam
Anette Dowideit
Apotheker gelten als einer der angesehensten Berufsstände. Doch immer wieder kommt es zu Betrügereien


Die Staatsanwaltschaften mehrerer Bundesländer gehen gegen Apotheker vor. Die Pharmazeuten ziehen Geld aus Krankenkassen mit falschen Rezepten ab. Das Entdeckungsrisiko ist gering.
Quelle: Die Welt
Sie waren zu dritt: die Ärztin mit eigener Praxis, ihr Liebhaber und ein Apotheker. Zusammen entwickelte das Trio in Frankfurt am Main offenbar ein Betrugsmodell, das ihnen innerhalb von neun Monaten mehr als 1,6 Millionen Euro eingebracht haben soll.

Die Masche funktionierte so: Die Allgemeinärztin soll Patienten aus ihrer Kartei Tausende Rezepte über möglichst hochpreisige Medikamente verschrieben haben – ohne dass die Patienten davon wussten. Der Lebensgefährte fuhr die Rezepte offenbar regelmäßig zur Apotheke. Dort kaufte ihm der Apotheker die Rezepte ab und bezahlte dafür in Medikamenten – allerdings in anderen als jenen, die auf den Rezepten vermerkt waren. Die Differenz zu den teureren, eigentlich verordneten Arzneien strich der Apotheker den Vorwürfen zufolge als Gewinn ein, die ausgehändigten Mittel verkaufte der Liebhaber an Abnehmer im Ausland.

Es ist eines der umfangreichsten Ermittlungsverfahren gegen einen Apotheker, die es in Deutschland bislang gab – und auch die Dimension der Schadenssumme ist neu. Nach Informationen der "Welt am Sonntag" hat die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main vor vier Wochen Anklage erhoben, nachdem sie seit Ende 2009 in dem Fall ermittelte. Angeklagt sind der Apotheker und der Lebensgefährte, die Ärztin ist flüchtig und wird per internationalem Haftbefehl gesucht.

Betrügereien in Höhe von 16 Millionen Euro

Apotheker gelten als einer der angesehensten Berufsstände im Land. Doch Betrügereien in der Branche sind nicht außergewöhnlich. Die Kosten für Medikamente sind gigantisch: 2015 gaben die gesetzlichen Kassen nach vorläufigen Schätzungen fast 35 Milliarden Euro für Arzneimittel aus. Die Organisation Transparency Deutschland schätzt, dass im Gesundheitswesen zwischen zwei und acht Prozent der Mittel durch Korruption oder Betrug versickern.

Wendet man diese Schätzung auf die Arzneimittel an, würde dies bedeuten, dass betrügerische Apotheker, Ärzte und Pharmafirmen die Sozialsysteme pro Jahr um mindestens eine halbe Milliarde Euro bringen, vielleicht sogar um mehrere Milliarden. "In dieser Schätzung sind Gelder, die Apotheker veruntreuen, ebenso enthalten wie Zuwendungen, die Ärzte für die umstrittenen Anwendungsbeobachtungen erhalten. Wir sind uns bewusst, dass es noch viele Bereiche gibt, die auch vom neuen Antikorruptionsgesetz nicht erfasst werden", sagt Transparency-Gesundheitsexperte Wolfgang Wodarg.

Pharmazeuten schädigen nach Erhebungen von gesetzlichen Krankenkassen das Gesundheitssystem finanziell stärker als alle anderen Berufsgruppen. Allein die Korruptionsbekämpfer der KKH Kaufmännischen Krankenkasse haben 2015 eine knappe halbe Million Euro von Apothekern zurückgefordert – fast doppelt so viel wie von Pflegediensten, der Berufsgruppe mit dem zweithöchsten Wert.

Insgesamt decken die gesetzlichen Krankenkassen pro Jahr Betrügereien durch Apotheker in Höhe von 16 Millionen Euro auf. Und das ist nur die Spitze eines Eisbergs, vermuten Gesundheitsökonomen wie Gerd Glaeske. "Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering, dass Betrug durch Apotheker auffällt", sagt der Bremer Professor. "Es gibt in diesen Konstellationen von krimineller Energie einzelner Personen üblicherweise nur wenige Mitwisser, und solange die zusammenhalten und sich nicht gegenseitig verpfeifen, gibt es kaum eine Chance, dass es auffliegt." Auch im Frankfurter Fall war es Zufall: Die Ärztin war auch schon anderweitig auffällig geworden und daher besonders im Visier der Krankenkassen.

Fehler im System – Rezepte sind der letzte Bar-Scheck

Die gängigste Betrugsmasche bei Apothekern ist Staatsanwälten zufolge das sogenannte Luftrezept: Der Pharmazeut besorgt sich, wie im Frankfurter Fall, Rezepte, die ein Arzt ausgestellt hat – oder er fälscht sie gleich selbst. Er reicht die Scheine bei der Kasse ein und kassiert das Geld dafür, obwohl das entsprechende Medikament nie über die Ladentheke gegangen ist.

Arzneirezepte sind der letzte Bar-Scheck, den wir in unserer Gesellschaft nutzen

Gerd Glaeske
Gesundheitsökonom

Dass dies immer wieder klappt, liegt an einem Fehler im System, sagt Gesundheitsexperte Glaeske. "Arzneirezepte sind der letzte Bar-Scheck, den wir in unserer Gesellschaft nutzen." Die Krankenkassen zahlen dem Apotheker das Geld erst einmal aus, im Vertrauen darauf, dass alles seine Richtigkeit hat. Erst wenn es anonyme Hinweise auf Betrug gibt oder auffällig hohe Abrechnungssummen, fangen die Kassen an zu ermitteln. In solchen Fällen lassen sich die Prüfer etwa die Lieferscheine für die fraglichen Medikamente zeigen.

Doch selbst das schützt nicht vor Betrügern. Der Frankfurter Oberstaatsanwalt Alexander Badle etwa, der die Ermittlungen im aktuellen Fall leitet, sagt: "Es gibt zum Beispiel den Trick, sich die Medikamente erst tatsächlich vom Großhändler liefern zu lassen – sie dann aber wieder kostenlos zurückzuschicken. So kommt man an einen Lieferschein." Allein in Hessen, sagt Badle, wurden seit der Gründung seiner Zentralstelle vor rund sieben Jahren 66 Ermittlungsverfahren gegen Apotheker und deren Kunden geführt.

Verfahren dauern Jahre

Wie findig häufig vorgegangen wird, zeigt ein weiteres großes Ermittlungsverfahren, das zurzeit von der Staatsanwaltschaft Potsdam vorangetrieben wird. In dem Fall arbeitete der Apotheker, der Anfang 2015 ins Visier der Ermittler geriet, nicht mit einem Arzt zusammen. Stattdessen baute er sich, so der Verdacht, über Monate einen Patientenstamm aus rund 60 HIV-Abhängigen auf. Die Medikamente, die diese Patienten gewöhnlich beim Arzt verschrieben bekommen, gehören neben Krebspräparaten zu den teuersten aus dem gesamten Leistungskatalog. Auf den Verordnungen für HIV-Patienten stehen in der Regel eine ganze Reihe von Medikamenten, die zusammen das Immunsystem optimal stützen sollen.

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In Potsdam allerdings verzichteten diese Patienten – "Zulieferer", wie sie bei der Staatsanwaltschaft genannt werden – auf die teuersten Mittel aus den Cocktails. Sie ließen sich als Gegenleistung einen Teil des Geldes auszahlen, den Rest strich der Apotheker als Gewinn ein. Abgewickelt wurde das Ganze über einen "Rezeptsammler", der sich regelmäßig mit dem Apotheker traf. Das Landeskriminalamt überwachte monatelang die Telefongespräche, SMS und E-Mail-Konten der beiden. Das System lief offenbar bereits seit 2011, der mutmaßlich entstandene Schaden: etwa eine Million Euro.

Solche Fälle zu verfolgen ist langwierig und knifflig. Bis ein Verfahren abgeschlossen ist, dauert es meist Jahre. Warum, erklärt der Frankfurter Ermittler Badle. "Früher arbeiteten die Staatsanwaltschaften und Kassen in solchen Verdachtsfällen für gewöhnlich so, dass sie für jedes einzelne fragliche Rezept die Patienten kontaktierten und abfragten, ob diese die Medikamente tatsächlich bekommen haben." Was natürlich nicht in den Fällen funktioniert habe, in denen die Patienten eingeweiht waren.

Patienten verkauften Rezepte

Badle und Kollegen haben deshalb eine neue Ermittlungsmethode entwickelt: einen computergestützten Abgleich zwischen dem Wareneingang der Apotheke und den mit den Kassen abgerechneten Arzneimitteln. Damit dieser Abgleich möglich ist, müssen die Ermittler mit riesigen Datenmengen arbeiten: Die Staatsanwälte müssen sich die Lieferlisten von rund hundert verschiedenen Arzneimittellieferanten der Apotheke besorgen. Entsprechend lang, bis zu 300 Seiten, sind später die Anklageschriften.

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Auch im aktuellen Frankfurter Verfahren haben die Staatsanwälte Jahre gebraucht, um die Beweise zusammenzutragen. Den Ermittlungsergebnissen zufolge soll der Apotheker allein von Februar bis Oktober 2009 bei den Kassen für 1,6 Millionen Euro Rezepte eingereicht haben, die von der Ärztin ausgestellt worden waren – sie machten rund die Hälfte an allen Rezepten aus, die der Apotheker insgesamt abrechnete. Die vernommenen Patienten sagten aber zum großen Teil, sie hätten die besagte Apotheke nie betreten.

Auch der Bruder des Apothekers ist bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft bekannt. Er könnte nach bisherigen Erkenntnissen aus einem noch laufenden Verfahren gegen ihn die Sozialsysteme mit Luftrezepten für teure Mittel wie Exjade und Ferriprox um rund zwei Millionen Euro geprellt haben. Dabei soll er gemeinsame Sache mit Patienten gemacht haben, die unter einer seltenen Stoffwechselkrankheit leiden und die Arzneien brauchen, um überschüssiges Eisen aus dem Körper zu ziehen. Die Patienten, vermuten die Ermittler, ließen sich die Mittel von verschiedenen Ärzten, die voneinander nichts wussten, häufiger verschreiben als nötig. Die Rezepte verkauften sie an den Apotheker.

Krankenkassen kritisieren zu wenig Kontrolle

Der Deutsche Apothekerverband (DAV) und die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) schreiben auf Anfrage, angesichts der großen Mengen an verkauften Medikamenten – 700 Millionen verschreibungspflichtige Arzneimittel pro Jahr – seien Betrügereien in Einzelfällen nicht auszuschließen. Dafür, dass es sich um eine weitverbreitete Masche handle, lägen jedenfalls keine Hinweise vor.

Bei den Krankenkassen ist man äußerst unzufrieden damit, dass das System – Bargeld gegen Rezept – derart undurchsichtig ist und bislang nicht effektiv kontrolliert werde. "Die intransparente Finanzierung unseres Gesundheitswesens lädt scheinbar dazu ein, sich auf Kosten der Allgemeinheit zu bereichern", sagt KKH-Vorstandschef Ingo Kailuweit. Der Manager fordert mehr Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Denn "leider", so Kailuweit, "kommt es längst nicht in allen Fällen zu einer adäquaten Strafverfolgung. Häufig sind die Ermittlungsbehörden personell nicht genug ausgestattet, um in einem so komplexen Themengebiet ihrer Arbeit bestmöglich nachzugehen."

Der Frankfurter Ermittler Badle sagt, die Schwerpunktstaatsanwaltschaften hätten den Vorteil, dass dort viele Fälle zusammenliefen und sich aus der Zusammenarbeit mit den Kassen neue Betrugs-Trends erkennen ließen. "Wir können den Kassen Erfahrungen aus unserer Arbeit zurückmelden." So ließen sich bei Hinweisen auf Betrugs-"Trends" Kontrolllücken schließen – etwa, indem Kassen auswerten, ob Patienten ihre Rezepte auffällig weit vom Wohnort entfernt einlösen. So war es etwa im Fall des Bruders des Frankfurter Apothekers. Letztlich aber, sagt Badle, würden sich Betrüger für jedes Schlupfloch, das geschlossen werde, ein neues suchen. "Arbeitslos werden die Ermittler in diesem Bereich der Wirtschaftskriminalität sicher nicht."